
Blühende Schönheit – Japans Kirschbäume
Von Michael Pronko

Kürzlich spazierte ich durch den Shinjuku Gyoen Park, der für seine Kirschblüten berühmt ist. Selbst an einem bewölkten, windigen Nachmittag waren die eleganten Alleen überfüllt. Verliebte flanierten, alte Freunde plauderten, Kinder hüpften und lachten, Kollegen scherzten und nickten, und alle posierten und machten Fotos – Hunderte und Aberhunderte von Fotos.
Es war unmöglich, einen Winkel zu finden, in dem keine Fremden im Bild waren. Welche andere Blume ist so beliebt, dass jeder jeden anderen in den Schatten stellt? Und dann darüber lächelt und die Achseln zuckt? Aber vielleicht waren wir uns gar nicht fremd. Wir waren vereinte Kirschblütenliebhaber. Wir haben die Fotos anderer eingereicht und sie haben unsere eingereicht.

Vielleicht liegt ein Grund, warum Menschen Kirschbäume lieben, darin, dass sie so lebendig wirken. Sie unterscheiden sich von zu hohen Kiefern oder majestätischen Zedern, die Ehrfurcht und Respekt einflößen, oder auch von kleineren blühenden Bäumen, die notwendig und schön sind. Kirschbäume vermitteln ein Gefühl von Nähe. Die schweren, knarrenden Äste hängen bis zur Erde herab, um den Menschen auf halbem Weg entgegenzukommen, wie ein herzlicher Händedruck von einem alten Freund.

Selbst eine alte Betonmauer oder ein staubiger Schulhof werden durch einen einzigen Kirschbaum verwandelt. Sie verwandeln Asphalt oder schlichten Boden in etwas Herrliches und legen ihre Blütenblätter wie einen tröstenden Schal über die Schultern der Welt. Menschen bleiben auf dem Heimweg für ein paar Minuten vor einem einzelnen Baum stehen, selbst wenn sie zu keiner anderen Jahreszeit dort anhalten würden. Sie lassen uns innehalten von der Hektik unseres Lebens.


Aber tagsüber gefällt es mir besser. Man kann die Bäume in ihrer ganzen Pracht bewundern, und ich liebe es, Menschen dabei zuzusehen, wie sie Fotos von Menschen machen, die sich an die Blüten schmiegen und in ihrer Schönheit versinken. Mir fiel eine ältere Frau mit einem Gehstock auf, die sich die Haare bürstete und ihr Outfit zurechtmachte, während eine Freundin oder vielleicht ihre Schwester darauf wartete, dass sie sich fertig machte. Wie die Bäume war sie nicht zu alt, um gut auszusehen, und nicht zu schüchtern, um ihre Schönheit zu zeigen.

Viele Ausländer im Park, von denen manche dieses Spektakel vielleicht zum ersten Mal sahen, hielten ihre Kameraausrüstung in der Hand und wirkten zu überwältigt, um zu wissen, wo sie anfangen sollten. Ihre vielsprachigen „Wows“ hörten nicht auf, als ihre Finger den Auslöser drückten. Sie schienen in eine Art ehrfürchtiges Nachdenken über diese so einfache, großartige Idee zu verfallen – überall Kirschbäume aufzustellen.

Und die Menschen folgen ihrem Beispiel. Jeder bewegt sich anders zwischen den Bäumen. Als ich über das offene Gelände des Parks blickte, glich das Flanieren aller einem Tanzen. Frauen tänzeln und rollen mit den Hüften. Männer nicken mit dem Kopf und verdrehen die Schultern. Menschen wenden sich einander zu – lächeln, berühren sich – und entfernen sich dann sanft voneinander. Nicht nur die Kinder sind ständig in Bewegung. Alle wiegen sich wie Tänzer im Takt der Bäume.
Die Leute bewegen sich im Licht hin und her und versuchen, den besten Winkel zum Fotografieren zu finden. Sie suchen nach der richtigen Perspektive, um die schillernden Weiß- und Rosatöne einzufangen, die von glänzend über matt bis hin zu leuchtendem Licht changieren. Im Sonnenlicht können die Farben fast schmerzhaft sein. Die Leute scheinen ihre Kameras anzuflehen, besser zu arbeiten, um all die Schönheit einzufangen.
Die Schönheit hält die Menschen davon ab, ständig auf ihr Handy zu schauen. Ja, sie schauen sich das letzte Foto an, um das nächste noch besser zu machen, aber sie verbinden die Bäume mit etwas tief in ihrem Inneren und lassen die Oberfläche von E-Mails, Nachrichten und Online-Suchen für eine Weile verschwinden. Die Blüten sind wie das Gegenteil von dem, was auf einem Smartphone-Bildschirm erscheint – nicht nur werbefrei, sondern offen, natürlich und echt.

Und selbst zwischen den Bäumen strömen sie zu den imposantesten wie Vögel zu einem Futterhäuschen und schlängeln sich so nah wie möglich heran, wie Karpfen zu Krümeln im Teich. Von den schönsten, üppigsten Bäumen aus ist eine Einzelaufnahme hoffnungslos. Kein Winkel erlaubt nur eine Person und den Baum. Es sind immer zu viele Menschen da.

Und vor den prächtigsten Bäumen nehmen sich die Leute immer besonders viel Zeit für die Vorbereitung. Sie wollen bei einem so spektakulären Hintergrund nicht schlampig aussehen. Auch die Fotografen gehen mit größerer Sorgfalt vor. Sie blinzeln auf ihre Bildschirme, drehen das Objektiv und positionieren die Aufnahme wie Kameraleute. Wenn man da steht und einen blühenden Kirschbaum fotografiert, ist es, als ob jeder für einen Augenblick die erhabenste Schönheit berührt. Wir nähren uns davon. Wir möchten ein Foto davon machen, uns darin einhüllen und für einen Augenblick unter den Zweigen und für immer auf dem Foto existieren. Und wenn wir die Bäume schließlich verlassen müssen, trösten wir uns damit, dass wir nächstes Jahr wieder vor den Kirschbäumen stehen können, um unseren Vorrat an Schönheit aufzufüllen und unsere Sinne für ein weiteres Jahr mit Energie zu versorgen.
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